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Sonntag, 24. März 2013

Viva México! (1. Teil)


Wenn man den Stieren plötzlich gegenüber steht
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Eine Reportage von Dominik Sachsenheimer 

Warum fliegt ein Mann von 36 Jahren von Chicago nach León, Mexiko, um ein Wochenende lang Stierkampf zu üben? Eine Midlife-Crisis wäre die naheliegende Antwort, Abenteuerlust die romantische. Oder weil Stierkampf eine essentielle, menschliche Kunstform ist? Weil jeder Mensch im Augenblick der Angst offenlegt, wer und was er ist, ohne sich hinter Posen verstecken zu können? Weil man also sein echtes Wesen zum Ausdruck bringt, bringen muss und sich selbst, seinen Kern, eventuell erst auf diese Weise erkennt? Vielleicht. Dazu muss man wissen: ich sehe mich nicht als Künstler, ich bin nicht mal mutig, kein Draufgänger, im Gegenteil, als Kind bin ich am langsamsten Schlitten gefahren.
Dennoch fliegen Robert, Frank und Jorge Luis nach León, Hauptstadt der Provinz Guanajuato. Die drei, die ich aus meiner Zeit in New York kenne, lesen mich am Flughafen auf. Sie sind bereits in mehr als 10 Festivals aufgetreten, in denen sie Jungstiere mit etwa 300kg getötet haben. Bei mir hat es bislang nur zu einer “tienta” in Salamanca vor sechs Jahren gereicht, noch bevor ich in die USA auswanderte.

Wir wollen am Samstag und Sonntag zu einem “tentadero”, einem Test. Um die für Kampfstiere als ideal geltenden Eigenschaften zu züchten, testet man die Kühe in der plaza und hofft, dass die Mütter ihre Anlagen später an ihre Söhne weitergeben. Würde ein Stier der “capa” und “muleta” ausgesetzt, würde er sich zeitlebens daran erinnern, wäre also für einen späteren Auftritt unbrauchbar.

Um elf Uhr vormittags am Samstag kommen wir auf der Ranch “Campo Alegre” an und gehen durch roten Staub zur Arena aus Naturstein. Kakteen zieren die kleine Tribüne. Dort erwartet uns schon German, der “maestro de lidia”, kolumbianischer novillero mit Auftritten in Las Ventas in Madrid, keine Ohren, aber gute Kritiken mit schwierigen Stieren, allerdings Ende Oktober, so dass zu Beginn der kommenden Saison alles vergessen war. Neben German lernen wir Luis Miguel kennen, lokaler aficionado mit unzähligen Festivals auf dem Kerbholz, Sohn und Neffe einiger mexikanischer empresarios, aber am Tag Buchhalter. Frank kennt German und Luis Miguel von früheren Reisen, sie werden uns mit schwierigen Tieren helfen.

Im Stall stehen etwa 20 Kühe, davon drei kleine und ein Haufen sehr grosse, leider kaum etwas dazwischen, was besser gewesen wäre  – vor allem für mich. Ich mache mir angesichts der grossen Viecher fast in die Hosen und frage mich heimlich, warum ich so einen Unsinn riskiere. Als Anfänger werden mir die Mini-Kühe zugeteilt, Frank, Robert und Jorge Luis einigen sich mit Kennerblick auf grosse Tiere, so dass wir am Ende pro Mann drei “vacas”, also insgesamt zwölf Kühe haben – macht sechs am Tag.

Weil meine Kuh so winzig ist, kommt sie zuerst dran, zum Aufwärmen sozusagen. Statt das Tuch anzugreifen, rennt sie allerdings ängstlich davon. Ich laufe hinterher und werde jedes mal überrumpelt, wenn sie sich doch spontan zum Angriff umdreht. Ich gerate im Rückzug ins Stolpern und lande unsanft auf dem Hosenboden. Blöder Start, aber das Tier ist so harmlos, dass es eher peinlich als gefährlich wird. Es tut ein bisschen weh, aber verletzt ist in erster Linie mein Stolz.

Nach mir kommen Jorge und Frank mit schwierigen Tieren dran, und als vierter Robert mit der einzig mittelkleinen Kuh, mit der ich auf den Fotos zu sehen bin. Nachdem er sie toreiert hat, werde ich aufgefordert, auch mal was mit seinem Tier zu probieren. Mein Puls jagt auf 190 hoch, einerseits, weil das Tier eben wild ist. Andererseits weil ich als Anfänger kaum Erfahrung oder Technik und vor allem wenig Selbstvertauen habe. Es ist ein großer Sprung von der Theorie zur Praxis. Die einzige Form des Trainings ohne Tier ist das “toreo de salon”, frei übersetzt: das Tuchwedeln im Wohnzimmer.  Als ich noch in New York lebte, haben wir uns mangels Wohnzimmer zu viert im Central Park getroffen, einmal erhielten wir dort sogar eine Lehrstunde von maestro Espla, der einen Vortrag für den “New York City Club Taurino” hielt. Aber seit meinem Umzug nach Chicago ein Jahr zuvor war ich außer Form gerraten und schlich deswegen in den Wochen vor unserer Reise jeden Morgen um fünf Uhr in eisiger Kälte auf ein Basketballfeld, um dort zu üben.

Zum Glück scheine ich mich ordentlich anzustellen, zumindest behaupten meine Trainingspartner, es sei  Talent vorhanden. Vielen “aficionados practicos” fallen die pases schwer, die Figuren verrutschen zu ungelenken Verbiegungen des Körpers. Der Teufel liegt im Detail und vor allem im Handgelenk: Erstens, weil der Stadtmensch dort zu wenig Kraft hat; matadores besitzen trotz zierlicher Figur starke Muskeln im Unterarm und der Hand, ich hingegen bekomme schon nach 20 Minuten Krämpfe in den Fingern. Zweitens, weil das Dirigieren des Tuchs ein ganz unnatürlicher Vorgang ist, vor allem mit der schweren und sperrigen capa, wenn beide Hände voneinander unabhängig und in unterschiedlichem Tempo arbeiten.

Jetzt schaut mich die Kuh an und ich laufe langsam weiter in ihren gedachten Angriffsweg, “cruzar” oder kreuzen heißt das im Fachjargon. Mit forscherem Schritt und einem kurzen “He!”, begleitet von einem leichten Schütteln des Tuchs, versuche ich sie zum Angriff zu reizen. Keine Reaktion. Ich bin zu weit weg, ein Anfängerfehler. Ein weiterer häufiger Anfängerfehler wäre aber, nach ein paar Fehlversuchen zu forsch zu Werke zu gehen und die unsichtbare Linie zu übertreten, die das Gebiet des Tiers markiert. Dieses Überschreiten wird meist mit einem sofortigen Angriff bestraft, der oft ungemütlich endet, weil der Anfänger weder sein Tuch in Position gebracht hat noch geistig vorbereitet war und in Panik zur Seite oder nach hinten ausweicht, was alles noch viel schlimmer macht, weil das Tier nun genau in die taumelnde Masse aus Mensch und Tuch rennt. Die richtige Reaktion wäre ein Schritt in den Angriff hinein, das Tuch vor dem Körper, um das folgenden Tier mit dem Tuch um den Mann zu führen, statt in ihn hinein.

Also schaue ich der Kuh nun in die Augen und versuche bei langsamem Vorwärtstasten an ihrem Blick abzulesen, wann ich ihre Grenze erreiche. Sie blinzelt und bewegt ganz leicht den Kopf, viel undramatischer als die schnaubenden und mit dem Huf scharrenden Bullen in “Bugs Bunny”-Cartoons. Also noch mal, “He!” und das Tuch rausgehalten. Sie stürmt los und ist schon vorbei, offenbar habe ich etwas richtig gemacht, obwohl es zu schnell ging, als das ich mich daran erinnern könnte: Das Tempo des Tuches hat sich dem Tempo des Angriffs angepasst. Die matadores nennen diesen Effekt “templar”: das Tuch folgt dem Stier, auch wenn es anders ausieht. Der Angriff verlangsamt sich nicht auf das vom matador vorgegebene Tempo, selbst wenn manche Fans ihren Helden gerne solche Fertigkeiten zusprechen. So etwas gelingt eventuell später in der “faena”, wenn der Stier müder geworden ist und auch nur dann, wenn der torero zuvor als vertauensbildende Massnahme das Tempo des Stiers aufgenommen hatte. Wird das Tuch aber anfangs zu langsam bewegt, feuert der Stier es mit Kopfstössen durch die Gegend, frustriert vom Fehlen eines festen Wiederstandes. Dabei soll der Drang nach einem solchen Wiederstand ihn motivieren, konstant und stetig anzugreifen.

Was mir dagegen nicht gelingt, ist das unmittelbare Wenden des Stiers für den nächsten Angriff. Zum Glück, ich bin nämlich so verwirrt, dass ich dem Tier noch nachsehe und gar nicht parat stünde, wenn es schon wieder käme. Aus den burladeros höre ich aufmunternde Rufe, während ich die fehlenden drei oder vier Schritte auf die Kuh zugehe. “Muy bien, torero”, “despacito”, “bajo la mano”... (langsam, halte die Hand unten).

Ein derechazo von Dominik
Die nächsten drei derechazos führen zu lauten “Oles”, auch von den Rängen, wo inzwischen der ganadero mit ein paar Freunden über die Gringos lachen will. Trotz der Verbindung von drei “pases” in Folge misslingt das Umschalten auf den abschließenden “pase de pecho” und die Kuh erwischt mich mit ihrer Stirn am Schienbein, die kleinen Hörner gehen zwar links und rechts am Bein vorbei, aber ich gehe schon wieder zu Boden.

Danach gelingen zwei Serien “naturales” über das einfachere, linke Horn. Der “pase de pecho” gerät allerdings zu hektisch und die Kuh dreht auf kleinstem Raum um, weil sie auf einmal ohne Tuch und mithin ohne Ziel dasteht – und wieder lande ich im Staub. Der letzte “pase de pecho” gelingt allerdings hervorragend.
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Siehe auch:
Ein zeitloses Geschenk aus jener Stunde in México von Dominik Sachsenheimer
Viva México! (2. Teil)