von Valle-Inclan
Was ein spielendes Kind mit den Stieren zu tun hat
______________________________________________________
Der spanische Journalist und Schriftsteller Ramón Pérez de Ayala (1880 - 1962) traf sich im Atelier des Bildhauers Sebastián Miranda (1885 - 1975) in Madrid, um dort gemeinsam mit dem spanischen Dramatiker Ramón María Valle-Inclan (siehe SfA-Zitat: "Einfach nur lächerlich!") zu dinieren. Der noch junge Journalist, gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt, war sehr angetan von dieser Atmosphäre und nachdem sie die Nachspeise beendet hatten richtet er sich respektvoll an seinen spanischen Freund und Schriftsteller Valle-Inclán: "Don Ramón, glauben sie, dass es Kunst ist, der Stierkampf?"
Ramón María Valle-Inclán, Sebastián Miranda und Ramón Pérez de Ayala |
"Selbstverständlich, und eine ganze Menge! Schauen Sie: Die grösste Manifestation der Kunst findet sich in der Tragödie. Der Autor einer Tragödie schafft einen Held und sagt dem Publikum: "Ihr müsst diesen lieben!" Und was macht es aus, geliebt zu werden? Er umgibt sich mit Gefahren, mit Bedrohungen, mit schlechten Vorzeichen ... und das Publikum beginnt sich für diesen Held zu interessieren, und je grösser sein Leid ist, je mehr er sich dem Tod nähert, umso mehr lieben sie ihn. Denn der Mensch liebt nicht unbedingt seinen Mitmenschen, sondern wenn er ihn in Gefahr sieht.
Angenommen ein kleines Kind spielt in diesem Raum und wir beachten es nicht. Im Gegenteil das Spielen empfinden wir als störend. Doch plötzlich nähert sich das Kind dem Balkongeländer, und es scheint so, als ob er darüber auf die Strasse fallen würde. Und da erheben wir uns besorgt und rufen aus: "Dieser Junge!". In genau jenem Moment mögen wir alle diesen Jungen, aber es hat sich als notwendig erwiesen, dass unsere Herzen ihre Liebe erst entfalten konnten, als wir im Begriff waren, dieses Wesen zu verlieren.
Bei den toros ist die Tragödie pure Wirklichkeit. Dort ist der torero Autor und Schauspieler zugleich. Er kann nach seiner Laune eine Komödie, Tragödie oder Farce schaffen. Je grösser die Gefährlichkeit des toreros, umso grösser ist die Androhung einer Tragödie und noch grösser die Manifestation als Kunst.
Es gibt toreros, wie Belmonte (1892-1962), die rufen die Tragödie ins Leben, sie fühlen sie, und während sie die suertes des toreos vollführen, händigen sie sich im Rausch der Kunst dem toro aus. Dann streifen die cuernos der toros die Seide und das Gold ihrer trajes; die Tragödie nähert sich, und das Publikum, ohne zu wissen warum, erhebt sich, ist ergriffen, ist begeistert. Warum? Für die Kunst.
Sprechen wir mal den toros die Fähigkeit ab zu töten, und schon gebe es keine fiesta mehr, weil die Tragödie fehlt, und somit keine Kunst. Nehmen wir einmal an, in zehn Jahren stirbt nicht ein torero, das Interesse an den corridas de toros würde schwinden. Ein torero der sich nicht der Gefahr aussetzt von einem toro erwischt zu werden, beginnt das Publikum zu langweilen. Das geschah zum Beispiel mit Rafael Guerra (torero, 1862 -1941).
Heute haben wir den Fall von Joselito (torero, 1895-1920). Joselito ist ein torero mit grösstem Wissen und verfügt über mehr körperliche Fähigkeiten als andere. Allerdings begann er das Publikum zu langweilen. Er war der erste wirkliche Schauspieler der tauromaquia. Aber wie eben in dieser Kunst, der innere Autor und der Schauspieler treten gemeinsam an. Und der Autor Joselito will keine Tragödie schaffen; er fühlt nicht die Kunst der Tragödie, und trotz seiner wunderbaren faenas, seiner Begabung, seinen Wunderwerken, merkte das Publikum, dass etwas fehlt, etwas was der Grund dafür sein könnte, dass der langweile Tag kommen wird, und man weiss nicht was es ist.
Die Tragödie ... die Kunst ... Sein Bruder Rafael (El Gallo, torero 1882-1960) ist eine andere Angelegenheit. Er verfügt über weniger Fähigkeiten, weiss weniger als er; wenn er aber einem toro begegnet der ihn begeistert, dann schafft er arte, dann wird es göttlich; weil er, wie Belmonte, verwandelt, und diese Verwandlung ist Theologie.
Die toros, um so zu sein, wie sie sein sollten, benötigen ihren tragischen Teil, den Tod des toros, des caballos oder auch mal des toreros. Der torero, der sich während seines toreos am meisten dem Tod nähert, dieser ist der grösste artista, derjenige der am besten die taurinische Tragödie interpretiert, obwohl der andere, zwar über die besseren Fähigkeiten verfügt, steht er über ihm. Joselito oder die Quinteros (toreros, 1869-1932, 1895-1970) sind da gleich... Sie sind "gut". Nun, alles was ich jetzt gesagt habe, die Fachbegriffe taurinos, nicht einmal dieselben toreros, kennen kein Wort davon."