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Sonntag, 12. Januar 2014

Europa und der Stier (2. Teil)

Gedanken zum europäischen Umgang mit der mundo de los toros
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von Torodora Gorges


Im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts hatte Kurt Tucholsky im südfranzösischen Bayonne – grenznah zu Spanien – einem Stierkampf beigewohnt. Mit seiner unnachahmlich satirisch-kritischen und trotz aller Distanziertheit anschaulich-mitreißenden Darstellung lässt er den Leser in seinem „Pyrenäenbuch" teilhaben am Erlebten. Er schafft es überdies, in aller Kürze nonchalant-nebenbei einen brillanten kulturhistorischen Abriss der „corrida de toros" zu geben, deren ihn überwältigenden ambivalenten Eindruck er schließlich so resümiert: „Eine Barbarei. Aber wenn sie morgen wieder ist: ich gehe wieder hin."

75 Jahre sind seither vergangen. Zum empörten Entsetzen der Tierschützer hat das Interesse und der Zulauf zu den corridas in den letzten Jahren stetig zugenommen, nur leicht gebremst durch die BSE-Krise im vergangenen Jahr. Zweifel, ob Spanien wegen dieses Makels „europafähig" wäre, bleiben politisch folgenlos. Nicht nur in ihrem Ursprungsland, sondern auch in Südfrankreich breiten sich die Stierkämpfe mehr und mehr aus. Entgegen anderen Behauptungen werden auch dort die Stiere durch den Degenstoß in der Arena vor den Augen des Publikums getötet. Die gesetzliche Erlaubnis dazu besteht seit 1951.

Europa und der Stier! Welche Menschen nun lassen sich anziehen und fesseln von dem Schauspiel, das andere rundheraus als unzeitgemäßes blutig-sadistisches Hinrichtungsspektakel ablehnen? Neugierige und häufig schlecht informierte Touristen, die den folkloristischen Angst-Lust-Kick suchen, erliegen nicht so zahlreich der Faszination des archaischen Rituals, dass sie – wie oft behauptet – für den Tod von immer mehr Stieren in der Sommersaison verantwortlich zu machen wären. In der Regel wiederholen sie ihren Besuch in der Arena nicht. –

Worin besteht für Kenner und Liebhaber des Stierkampfs seine ungebrochene Attraktivität? Was reizt Zuschauer, denen keine besondere Neigung zu gewaltsamen Impulsen oder primitiver tierquälerischer Lust nachzuweisen ist, zum wiederholten, regelmäßigen Besuch der ritualisierten Interaktionen zwischen Stieren und Menschen? Wie ist es zu erklären, dass überzeugte Anhänger dieses Geschehens, also „Fans" des Stierkampfs, sich „aficionados de los toros" nennen, soviel wie (begeisterte) „Liebhaber der Stiere"?

Drei Bücher zum Thema „Stiere" sind unlängst erschienen, in denen diesen Fragen nachgegangen wird. Die Verlage setzen offenbar bei den deutschsprachigen Lesern ein ausreichendes Interesse an diesem brisanten, politisch so wenig „korrekten" Thema voraus.

Gemeinsam ist den drei nordeuropäische Autoren - es sind die schottische Literatin A.L.Kennedy, Stierkampf; der Kärntner Journalist Harald Irnberger, Toros y Toreros; und der deutsche Ethnologe Karl Braun ¡Toro! – eine vorurteilsfreie, um Verstehen und Verständnis bemühte Auseinandersetzung auf dem Hintergrund umfassender theoretischer, aber auch aus eigener Anschauung gewonnener Sachkenntnisse. Alle drei konfrontieren den Leser mit ihrer Ambivalenz und den Konflikten, die wohl jeden Teilnehmer und Beobachter, der gegenüber dem Stierkampfritual sympathisierende Neigungen entwickelt, immer aufs neue „anfechten" dürften.

Es gibt ein Leben vor dem Tod am Nachmittag" - so untertitelt H. Irnberger sein Buch „Toros y Toreros". In Abwandlung des Titels „Tod am Nachmittag" erweist er dem „Meister" Hemingway Referenz, dessen Lektüre ihn in jungen Jahren zunächst zum „angelesenen" und später zum leibhaftigen „aficionado" geprägt hat. Irnberger weiß, dass viele spanische Stierkampfkenner aus unterschiedlichen Motiven nicht mit Hemingways Einschätzungen und Beurteilungen einverstanden sind. Sein eigener Versuch, Jahrzehnte später dem berühmten Hemingway-Brevier einen überfälligen „Anhang" anzufügen, ist so gut gelungen, dass es dessen Lektüre evtl. ersetzen könnte. Kurzweilig, humorvoll und anekdotenreich referiert Irnberger Wissenswertes über Stiere und Menschen, die miteinander und voneinander leben. Sozusagen hautnah erlebt er seit vielen Jahren in Andalusien die Allgegenwart des Stiers in der Alltagsöffentlichkeit. Der Leser kann den Lebenslauf eines toro bravo (Kampfstier) von der Geburt bis zum Todesstoß in der Arena exemplarisch ebenso nachvollziehen wie die Entwicklung eines toreros vom novillero (Neuling, Novize) zum matador de toros (dem Meistertitel oder der Promotion vergleichbar). Im Hinblick auf die Tradition der Kampfstierzucht informiert Irnberger über geschichtliche und gesellschaftspolitische Zusammenhänge. Er setzt sich mit den Argumenten der Gegner des Stierkampfs auseinander, er kritisiert den verstärkten Trend zu Kommerzialisierung und Banalisierung und beschäftigt sich mit der schwierigen Rolle der Frau in diesem Männerberuf. Große toreros der Vergangenheit werden vorgestellt und zitiert, etwa Belmontes Definition: „Der Stierkampf ist eine spirituelle Übung. Er findet vor allem im Kopf statt. Er ist eine wirkliche Kunst". Enrique Ponce, ein derzeit sehr berühmter Stier-„Künstler", ergänzt: „Das Wichtigste ist, dass der Kopf gut funktioniert. Stierkampf ist nichts für Idioten." Gleichzeitig beklagt Irnberger, dass gerade in der gegenwärtigen Situation große Könnerschaft oft ohne Anerkennung und Verdienst bleibt, während Mittelmass, Leichtsinn, Clownerie und Geldgier („das Ende der Würde") triumphieren. Seine Sorge um den kulturellen Niedergang der fiesta nacional ist verständlich! Die im Klappentext von Irnbergers Buch vertretene Meinung: ..."das traditionelle Drama vom Sterben des Stiers ist zur vulgären Schmierenkomödie verkommen" kann dennoch nicht generalisiert werden.

Nach Karl Brauns Ansicht beruhen die Konflikte um den Stierkampf in Europa auf interkulturellen Missverständnissen. In seinem Buch „¡Toro! Spanien und der Stier" versucht er, die soziokulturellen und psychologischen Hintergründe der corrida aufzudecken und Nicht-Spaniern einsichtig zu machen. Im ursprünglichen Sinn bedeutet corrida de toros der Lauf mit den Stieren. Durch die San-Fermin-Fiesta in Pamplona weltweit bekanntgeworden, wird dieser oft lebensgefährliche Brauch - weitaus weniger spektakulär jedoch – besonders in ländlichen Gegenden bei festlichen Gelegenheiten (z.B. zu Ehren von Heiligen) praktiziert. Braun berichtet über traditionelle örtliche Stierfeste und deren Verwurzelung im Mythos.

Kaum zu vermuten bei dem volkstümlich-lärmenden, ziemlich derben Treiben ist hinter dem Unterhaltungswert des Stierlaufs noch dessen unbewusste symbolische Bedeutung als Opfer- oder Fruchtbarkeitsritual. Das anschließende gemeinsame Verzehren des Stiers im Dorf z.B. gibt noch Hinweise auf den versöhnend-vereinenden Opfermahlcharakter. Unter Bezugnahme auf einen folkloristischen Text fokussiert Braun seine These: „Dass der Stier es ist, der ein menschliches Mit-Opfer fordern kann, daraus entspringt die Aggression gegen den Stier; daß der Stier im allgemeinen das den Menschen entlastende Opfertier geworden ist, daraus entspringt die große positive Emotion für den Stier..." in Spanien.

Nach einem Rückblick auf den vorchristlichen Kult um Artemis, die „von Stieren umgebene Göttin", geht Braun in einem prähistorischen Exkurs auf Mutter-Göttinnen ein, die nach dem Vorbild des Mondes (die Sichel gleichgesetzt mit dem Stierhorn) Leben und Wiedergeburt symbolisieren. Die heidnischen Göttinnen wurden „christianisiert" und als „Virgenes" (Heilige Jungfrauen) in den Dienst der katholischen Kirche genommen, in deren Schutz in Spanien, dem „Marienland schlechthin" – so Braun - die volkstümlichen Bräuche um den Stier praktiziert werden.

Was den Zuschauer der modernen corrida de toros (den Stierkampf in der Arena, wie er seit mehr als 200 Jahren ausgeübt wird) erwartet, bringt Braun auf folgende Formel: „Die corrida ist kein Kampf, nicht einmal ein Wettkampf... Es ist kein Treffen zweier gleichwertiger Gegner; der Stier ist Mittel nur zu einem einzigen Zweck: die mit Risiko verbundene Fähigkeit des Menschen (zu zeigen), sich ungebändigte Natur zu unterwerfen..." Der Ablauf einer corrida einschließlich des Tötungsakts ist durch strenge Regeln kontrolliert; von sadistischen Impulsen oder Blutlust seitens der agierenden oder zusehenden Personen könne keine Rede sein, meint Braun. Er fragt nach dem Ursprung der starken gefühlsmäßigen Bindung des spanischen Volks an seine fiesta nacional. Eine der in Erwägung gezogenen Theorien lautet: Mit dem Niedergang der berittenen Adels-Corrida gegen Ende des 18. Jahrhunderts übernahm das (Fuß-)Volk die Stierspiele. Aus den zunächst wilden, ungebändigten Interaktionen entwickelten sich die wohl geordneten strengen Formen, die nach der Tradition bis heute für die corrida gelten. Demnach könnte – in einer provokativen These - die Aufklärung als Nährboden des Rituals der corrida de toros gelten.

Gegen Ende des Buches, bevor er in einem letzten Kapitel „Das Töten und die Ordnung in der Kultur" – auch hier wieder unter kulturhistorischen, philosophischen oder psychoanalytischen Aspekten - thematisiert, erlaubt sich Braun die Forderung, dieses Ritual in die Reihe der zu schützenden Kulturgebilde aufzunehmen.. Mit ironischem Hinweis auf „allenthalben stattfindende Denkmalsucht und Musealisierung" wagt er die Frage: „Haben kulturgeprägte Interaktions- und Sozialformen, die noch intakt sind, etwa weniger Rechte als von Kultur geschaffene materielle Objektivationen?"

Im bibliographischen Anhang dieser beiden Stierkampf-Fachbücher sucht man als Kenner bedauerlicherweise vergebens den Namen des Autors Lorenz Rollhäuser, der 1990 bei Rowohlt „Toros, Toreros" veröffentlicht hat. Die Lektüre dieses Sachbuchs, das höchst mitreißend und originell geschrieben ist, bedeutet neben der fachlichen Bereicherung einen intellektuellen Genuss, auf den ein Hinweis sich unbedingt gelohnt hätte.

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