Im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts hatte Kurt
Tucholsky im südfranzösischen Bayonne – grenznah zu Spanien – einem Stierkampf
beigewohnt. Mit seiner unnachahmlich satirisch-kritischen und trotz aller
Distanziertheit anschaulich-mitreißenden Darstellung lässt er den Leser in
seinem „Pyrenäenbuch" teilhaben am Erlebten. Er schafft es überdies, in
aller Kürze nonchalant-nebenbei einen brillanten kulturhistorischen Abriss der
„corrida de toros" zu geben, deren ihn überwältigenden ambivalenten
Eindruck er schließlich so resümiert: „Eine Barbarei. Aber wenn sie morgen
wieder ist: ich gehe wieder hin."
75 Jahre sind seither vergangen. Zum empörten Entsetzen der
Tierschützer hat das Interesse und der Zulauf zu den corridas in den letzten
Jahren stetig zugenommen, nur leicht gebremst durch die BSE-Krise im
vergangenen Jahr. Zweifel, ob Spanien wegen dieses Makels „europafähig"
wäre, bleiben politisch folgenlos. Nicht nur in ihrem Ursprungsland, sondern
auch in Südfrankreich breiten sich die Stierkämpfe mehr und mehr aus. Entgegen
anderen Behauptungen werden auch dort die Stiere durch den Degenstoß in der
Arena vor den Augen des Publikums getötet. Die gesetzliche Erlaubnis dazu
besteht seit 1951.
Europa und der Stier! Welche Menschen nun lassen sich
anziehen und fesseln von dem Schauspiel, das andere rundheraus als
unzeitgemäßes blutig-sadistisches Hinrichtungsspektakel ablehnen? Neugierige
und häufig schlecht informierte Touristen, die den folkloristischen
Angst-Lust-Kick suchen, erliegen nicht so zahlreich der Faszination des
archaischen Rituals, dass sie – wie oft behauptet – für den Tod von immer mehr
Stieren in der Sommersaison verantwortlich zu machen wären. In der Regel
wiederholen sie ihren Besuch in der Arena nicht. –
Worin besteht für Kenner und Liebhaber des Stierkampfs seine
ungebrochene Attraktivität? Was reizt Zuschauer, denen keine besondere Neigung
zu gewaltsamen Impulsen oder primitiver tierquälerischer Lust nachzuweisen ist,
zum wiederholten, regelmäßigen Besuch der ritualisierten Interaktionen zwischen
Stieren und Menschen? Wie ist es zu erklären, dass überzeugte Anhänger dieses
Geschehens, also „Fans" des Stierkampfs, sich „aficionados de los toros"
nennen, soviel wie (begeisterte) „Liebhaber der Stiere"?
Drei Bücher zum Thema „Stiere" sind unlängst
erschienen, in denen diesen Fragen nachgegangen wird. Die Verlage setzen
offenbar bei den deutschsprachigen Lesern ein ausreichendes Interesse an diesem
brisanten, politisch so wenig „korrekten" Thema voraus.
Gemeinsam ist den drei nordeuropäische Autoren - es sind die
schottische Literatin A.L.Kennedy, Stierkampf; der Kärntner Journalist
Harald Irnberger, Toros y Toreros; und der deutsche Ethnologe Karl Braun
¡Toro! – eine vorurteilsfreie, um Verstehen und Verständnis bemühte
Auseinandersetzung auf dem Hintergrund umfassender theoretischer, aber auch aus
eigener Anschauung gewonnener Sachkenntnisse. Alle drei konfrontieren den Leser
mit ihrer Ambivalenz und den Konflikten, die wohl jeden Teilnehmer und
Beobachter, der gegenüber dem Stierkampfritual sympathisierende Neigungen
entwickelt, immer aufs neue „anfechten" dürften.
„Es gibt ein Leben vor dem Tod am Nachmittag" - so
untertitelt H. Irnberger sein Buch „Toros y Toreros". In Abwandlung des
Titels „Tod am Nachmittag" erweist er dem „Meister" Hemingway
Referenz, dessen Lektüre ihn in jungen Jahren zunächst zum „angelesenen"
und später zum leibhaftigen „aficionado" geprägt hat. Irnberger weiß, dass
viele spanische Stierkampfkenner aus unterschiedlichen Motiven nicht mit
Hemingways Einschätzungen und Beurteilungen einverstanden sind. Sein eigener
Versuch, Jahrzehnte später dem berühmten Hemingway-Brevier einen überfälligen
„Anhang" anzufügen, ist so gut gelungen, dass es dessen Lektüre evtl.
ersetzen könnte. Kurzweilig, humorvoll und anekdotenreich referiert Irnberger
Wissenswertes über Stiere und Menschen, die miteinander und voneinander leben.
Sozusagen hautnah erlebt er seit vielen Jahren in Andalusien die Allgegenwart
des Stiers in der Alltagsöffentlichkeit. Der Leser kann den Lebenslauf eines toro bravo (Kampfstier) von der Geburt bis zum Todesstoß in der Arena
exemplarisch ebenso nachvollziehen wie die Entwicklung eines toreros vom novillero (Neuling, Novize) zum matador de toros (dem
Meistertitel oder der Promotion vergleichbar). Im Hinblick auf die Tradition
der Kampfstierzucht informiert Irnberger über geschichtliche und
gesellschaftspolitische Zusammenhänge. Er setzt sich mit den Argumenten der
Gegner des Stierkampfs auseinander, er kritisiert den verstärkten Trend zu
Kommerzialisierung und Banalisierung und beschäftigt sich mit der schwierigen
Rolle der Frau in diesem Männerberuf. Große toreros der Vergangenheit werden
vorgestellt und zitiert, etwa Belmontes Definition: „Der Stierkampf ist eine
spirituelle Übung. Er findet vor allem im Kopf statt. Er ist eine wirkliche
Kunst". Enrique Ponce, ein derzeit sehr berühmter Stier-„Künstler",
ergänzt: „Das Wichtigste ist, dass der Kopf gut funktioniert. Stierkampf ist
nichts für Idioten." Gleichzeitig beklagt Irnberger, dass gerade in der
gegenwärtigen Situation große Könnerschaft oft ohne Anerkennung und Verdienst
bleibt, während Mittelmass, Leichtsinn, Clownerie und Geldgier („das Ende der
Würde") triumphieren. Seine Sorge um den kulturellen Niedergang der fiesta nacional ist verständlich! Die im Klappentext von Irnbergers Buch
vertretene Meinung: ..."das traditionelle Drama vom Sterben des Stiers ist
zur vulgären Schmierenkomödie verkommen" kann dennoch nicht generalisiert
werden.
Nach Karl Brauns Ansicht beruhen die Konflikte um den
Stierkampf in Europa auf interkulturellen Missverständnissen. In seinem Buch
„¡Toro! Spanien und der Stier" versucht er, die soziokulturellen und
psychologischen Hintergründe der corrida aufzudecken und Nicht-Spaniern einsichtig zu machen. Im ursprünglichen Sinn bedeutet corrida de toros der Lauf mit den Stieren. Durch die San-Fermin-Fiesta in Pamplona
weltweit bekanntgeworden, wird dieser oft lebensgefährliche Brauch - weitaus
weniger spektakulär jedoch – besonders in ländlichen Gegenden bei festlichen Gelegenheiten
(z.B. zu Ehren von Heiligen) praktiziert. Braun berichtet über traditionelle
örtliche Stierfeste und deren Verwurzelung im Mythos.
Kaum zu vermuten bei dem volkstümlich-lärmenden, ziemlich
derben Treiben ist hinter dem Unterhaltungswert des Stierlaufs noch dessen
unbewusste symbolische Bedeutung als Opfer- oder Fruchtbarkeitsritual. Das
anschließende gemeinsame Verzehren des Stiers im Dorf z.B. gibt noch Hinweise
auf den versöhnend-vereinenden Opfermahlcharakter. Unter Bezugnahme auf einen
folkloristischen Text fokussiert Braun seine These: „Dass der Stier es ist, der
ein menschliches Mit-Opfer fordern kann, daraus entspringt die Aggression gegen
den Stier; daß der Stier im allgemeinen das den Menschen entlastende Opfertier
geworden ist, daraus entspringt die große positive Emotion für den
Stier..." in Spanien.
Nach einem Rückblick auf den vorchristlichen Kult um Artemis, die „von Stieren umgebene Göttin", geht Braun in einem prähistorischen Exkurs auf Mutter-Göttinnen ein, die nach dem Vorbild des Mondes (die Sichel gleichgesetzt mit dem Stierhorn) Leben und Wiedergeburt symbolisieren. Die heidnischen Göttinnen wurden „christianisiert" und als „Virgenes" (Heilige Jungfrauen) in den Dienst der katholischen Kirche genommen, in deren Schutz in Spanien, dem „Marienland schlechthin" – so Braun - die volkstümlichen Bräuche um den Stier praktiziert werden.
Nach einem Rückblick auf den vorchristlichen Kult um Artemis, die „von Stieren umgebene Göttin", geht Braun in einem prähistorischen Exkurs auf Mutter-Göttinnen ein, die nach dem Vorbild des Mondes (die Sichel gleichgesetzt mit dem Stierhorn) Leben und Wiedergeburt symbolisieren. Die heidnischen Göttinnen wurden „christianisiert" und als „Virgenes" (Heilige Jungfrauen) in den Dienst der katholischen Kirche genommen, in deren Schutz in Spanien, dem „Marienland schlechthin" – so Braun - die volkstümlichen Bräuche um den Stier praktiziert werden.
Was den Zuschauer der modernen corrida de toros (den
Stierkampf in der Arena, wie er seit mehr als 200 Jahren ausgeübt wird)
erwartet, bringt Braun auf folgende Formel: „Die corrida ist kein Kampf, nicht
einmal ein Wettkampf... Es ist kein Treffen zweier gleichwertiger Gegner; der
Stier ist Mittel nur zu einem einzigen Zweck: die mit Risiko verbundene
Fähigkeit des Menschen (zu zeigen), sich ungebändigte Natur zu
unterwerfen..." Der Ablauf einer corrida einschließlich des Tötungsakts
ist durch strenge Regeln kontrolliert; von sadistischen Impulsen oder Blutlust
seitens der agierenden oder zusehenden Personen könne keine Rede sein, meint
Braun. Er fragt nach dem Ursprung der starken gefühlsmäßigen Bindung des
spanischen Volks an seine fiesta nacional. Eine der in Erwägung
gezogenen Theorien lautet: Mit dem Niedergang der berittenen Adels-Corrida
gegen Ende des 18. Jahrhunderts übernahm das (Fuß-)Volk die Stierspiele. Aus
den zunächst wilden, ungebändigten Interaktionen entwickelten sich die
wohl geordneten strengen Formen, die nach der Tradition bis heute für die corrida gelten. Demnach könnte – in einer provokativen These - die Aufklärung
als Nährboden des Rituals der corrida de toros gelten.
Gegen Ende des Buches, bevor er in einem letzten Kapitel
„Das Töten und die Ordnung in der Kultur" – auch hier wieder unter
kulturhistorischen, philosophischen oder psychoanalytischen Aspekten -
thematisiert, erlaubt sich Braun die Forderung, dieses Ritual in die Reihe der
zu schützenden Kulturgebilde aufzunehmen.. Mit ironischem Hinweis auf
„allenthalben stattfindende Denkmalsucht und Musealisierung" wagt er die
Frage: „Haben kulturgeprägte Interaktions- und Sozialformen, die noch intakt
sind, etwa weniger Rechte als von Kultur geschaffene materielle
Objektivationen?"
Im bibliographischen Anhang dieser beiden
Stierkampf-Fachbücher sucht man als Kenner bedauerlicherweise vergebens den
Namen des Autors Lorenz Rollhäuser, der 1990 bei Rowohlt „Toros, Toreros"
veröffentlicht hat. Die Lektüre dieses Sachbuchs, das höchst mitreißend und
originell geschrieben ist, bedeutet neben der fachlichen Bereicherung einen
intellektuellen Genuss, auf den ein Hinweis sich unbedingt gelohnt hätte.
---> Europa und der Stier (3.Teil) folgt