Mittwoch, 15. Oktober 2014

Eine Lanze für den Toro de la Vega (1. Teil)

Eine Stellungnahme zu den Tötungsritualen von Stieren
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von Dr. Andreas Krumbein


Die corrida de toros, so wie sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts aus den Anfängen einer Darbietung für die Bevölkerung, unter Erscheinens und Akzeptierens bezahlter, professioneller Spezialisten für das Töten und durch die Erarbeitung und Einführung komplizierter Regeln bis zum heutigen Tage entwickelt hat, vereint in sich eine verwirrende Vielzahl von Details, Überresten und Anspielungen auf althergebrachte Riten, Symboliken und Gebräuche aus vielen Regionen Spaniens und möglicherweise eines viel weiter ausgedehnten Bereiches um das Mittelmeer. Diese Riten, Symboliken und Gebräuche selbst sowie die Art und Weise, wie und zu welchen Anteilen sie in die corrida de toros eingeflossen sind, wie stark sie dort in Erscheinung treten und welche Bedeutung sie für die Menschen der früheren Epochen gehabt haben mögen und welche Bedeutung sie für den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt heutzutage haben oder haben könnten, ist Gegenstand von Interpretationen, Deutungen und Diskussionen, sowohl beim einfachen aficionado als auch in der Wissenschaft. Da gibt es die Demonstration von Mut und Männlichkeit beim Laufen der Stiere zum Beispiel während der encierros oder bei capeas, da gibt es die Opferung der jungen Männer, deren Leben irgendwann geschont und als deren Ersatz wertvolle Tiere, nämlich Stiere, getötet wurden. Da gibt es die Hochzeitsstiere, die einem frisch vermählten Ehepaar die Nachkommenschaft sichern sollen, es gibt das gemeinsame Totschlagen und –stechen eines Stieres mit anschließendem gemeinsamen Zerlegen, Zubereiten und Verzehr des Fleisches durch das gesamte Dorf. Es gibt in dem, was bei der corrida de toros dargeboten wird, das Erkennen einer als schicksalhaft angesehenen gesellschaftlichen Rolle von Mann und Frau, die Zuschreibung dieser Rollen den Akteuren toro und matador, und den allmählichen Rollentausch zwischen den beiden. Es gibt das Erkennen sexueller Komponenten zwischen den beiden Rollen und der Ausübung des Geschlechtsaktes.

Volante, Toro de la Vega 2012
(Foto: Gerardo Abril)
Ob das alles tatsächlich so ist, ob die Deutungen stimmen oder nicht, ob die überlieferten Erzählungen Erfindungen sind oder reale Ereignisse wiedergeben, ist häufig unklar, wirkliche Beweise gibt es nicht, lediglich Indizien. Indizien gibt es auch für die Ansicht, dass die Art und Weise, wie in Spanien Stiere bei gemeinschaftlich ausgeführten Ritualen getötet werden, ursprünglich auf die Jagd zurückgeht. Der Mensch begann einerseits dem Stier sein Territorium streitig zu machen und sich neuen Lebensraum zu erobern, andererseits war der Stier aufgrund seiner Größe und Masse ein begehrter Lieferant für Fleisch, Haut, Horn und Knochen. Der Stier verteidigt sein Leben und sein Territorium (su terreno), er ist gewaltig und wild und wird, vor allem wenn er als einzelnes Tier von der Herde abgesondert wird, außerordentlich aggressiv; wegen seiner Stärke und Waffen ist er sehr gefährlich. Der Mensch lernt, sich gegen die Art, wie sich der Stier verteidigt, zu wehren. Mensch und Stier sind in dieser Epoche natürliche Rivalen. Später entwickelt sich das Opfer des Stieres, der im Mittelmeerraum einerseits als Lebensspender oder Überträger sexueller Potenz das Prinzip des Schöpferischen symbolisierte und dessen heilbringende Wirkung man für sich selbst erbat. Andererseits existierte der Stier als Symbol zerstörerischer, roher Kraft und Gewalt, die den Menschen und sein Überleben bedroht, die gebändigt und vernichtet werden soll, oder auch als Symbol des Bösen, dessen Vernichtung und Verzehr durch Übertragung der Lebenskraft des Opfertieres neues Leben schafft oder dessen Tod mit Vorstellungen von Weihe und Wiedergeburt verbunden waren. Man kann Anklänge an solcherart Glauben und religiöse Vorstellungen in allen spanischen Tötungsritualen mit Stieren erkennen. Zwingend ist das nicht, aber es geht.


Die corrida de toros ist ein besonders entwickeltes Tötungsritual mit Stieren. Federico García Lorcas Ausspruch „Ich glaube, dass der Stierkampf heutzutage das kultivierteste Fest der Welt ist“. wird zu Recht an exponierter Stelle zitiert. Doch darf Kultiviertheit, hoher Bildungsstand und gute Erziehung dem aficionado den Blick für einen anderen Teil der (vermeintlichen) Wirklichkeit und des menschlichen Wesens nicht trüben: „Cossío meinte, die historisch älteste Form des Stierkampfs, abgesehen von der Jagd und bevor er im dreizehnten Jahrhundert zu einem Privileg des Adels wurde, sei zweifellos das tumultuarische, anarchische und brutale Stierspiel auf provisorisch zu diesem Zweck hergerichteten öffentlichen plazas gewesen, an dem Adlige und Leute aus dem Volk, Stierkämpfer zu Pferd und zu Fuß, Amateure und manchmal auch bezahlte Stiertöter teilnahmen. Das Volk »lief« die Stiere (»correr toros«), hetzte sie, lief mit ihnen zum Platz, die Stiere wurden dort eingepfercht und einer nach dem anderen losgelassen, und die Adligen bewiesen Mut und Geschicklichkeit, indem sie - unterstützt von Lakaien zu Fuss, die den Stier mit ihren capas in Position brachten und ihm Harpunen oder banderillas setzten, - den Stier vom Pferd aus mit der Lanze oder dem »rejón« (kurze Lanze) verletzten oder töteten. War der Stier erschöpft, aber noch nicht tot, oder fand sich für einen Stier kein caballero, so fiel das Volk über das Tier her und machte ihm den Garaus.“ [1] Schilderungen solcher Vorkommnisse und besonderer Eigenarten bei den sogenannten „Stierspielen“ gibt es in Neuhaus Kulturgeschichte über Stierkampf [1] viele. Alle sind für das Empfinden eines Mitteleuropäers sehr grausam, manche in der bildlichen Vorstellung fast unerträglich. Doch warum ist das so? Und: Warum machen diese Menschen so etwas?

VolanteToro de la Vega 2012
(Foto: José Carpita)
Das numerische Gewicht der »festejos populares« oder »menores« (Stierspiele und –kämpfe außerhalb der Arenen, für die kein Eintritt zu zahlen ist) übersteigt nach wie vor bei weitem das der »festejos profesionales« oder »mayores«. Es gibt etwa acht- bis zehnmal so viele »kleine« Stierfeste wie große; bei ihnen werden rund doppelt so viele Tiere getötet wie in den Arenen, und sie weisen wohl mindestens ebenso viele Teilnehmer auf wie die Arenen Zuschauer verzeichnen.“ [1] Die Situation für den aficionado, der der corrida de toros zugetan ist, sich aber mit den anderen Tötungsritualen mit Stieren nicht abfinden kann, stellt ein ebenso großes Dilemma dar, wie dasjenige, in dem sich mancher antitaurino befindet, der den Stierkampf abschaffen will, aber die übliche Schlachtung von Nutztieren aus der Landwirtschaft akzeptiert. (Siehe dazu den Beitrag Stierkampf und Tierquälerei [2].) Es gelingt nicht, das eine, dem man zugetan ist, gegenüber dem anderen, das man ablehnt, durch Argumente zu stützen, ohne sich selbst zu widersprechen oder die eigene Position zu zerstören. Besucht man als aficionado eine corrida de toros, hat man sich damit abgefunden, dass ein Tier öffentlich getötet wird, dass die Möglichkeit besteht, dass der Stier Schmerzen empfindet, dass das Töten und das Sterben des Stieres lange dauern kann und dass der Stier im allgemeinen den Kampf gegen den Tod durchlebt und möglicherweise auch durchleidet. Alle Argumente, dass der Stier, aus welchen Gründen auch immer, keine Schmerzen empfände oder nur reduziert, können nicht geltend gemacht werden, denn ein Beweis dafür kann nicht erbracht werden. Von ihrer Grundstruktur her ist die corrida de toros so geartet wie alle spanischen Tötungsrituale mit Stieren: eine Gemeinschaft von Menschen tötet gemeinsam ein Tier. Dass nicht jeder Einzelne bei der Ausführung der Tötungsprozedur mit Hand anlegt, spielt dabei keine Rolle. Der matador fungiert als Abgeordneter der Gemeinschaft, in deren Auftrag er den Stier für die Gemeinschaft, der er selbst angehört, tötet. Für die Übernahme des damit verbundenen Risikos, der Lebensgefahr und der Verpflichtung bestimmte Regeln einzuhalten, die das Risiko und die Gefahr noch erhöhen, wird er vom Rest der Gemeinschaft bezahlt. Die Gemeinschaft lässt sich damit ihren Schneid abkaufen, doch eines behält und trägt sie: die Verantwortung für die Tötung des Tieres, das für jeden einzelnen Anwesenden bei der corrida stirbt, eine Verantwortung, deren Übernahme nach außen hin und in aller Öffentlichkeit sichtbar gemacht wird und zu der jeder Anwesende steht. Häufig wird der Dreiklang von Stier, matador und Publikum, das sowohl die Qualitäten von Stier und matador beurteilt und einfordert, bemüht. In "Die Herausforderung der Corrida" [3] wird zusätzlich die presidencia als vierte Komponente, die die Einhaltung von Regeln auf Seiten der toreros sowie auf Seiten des Publikums zu kontrollieren und durchzusetzen hat und gegen den das Publikum als Vertreter der Obrigkeit und Gegenspieler des gemeinen Volkes in Opposition gehen kann, eingeführt, was anthropologisch, soziologisch und sozial-psychologisch von höchstem Interesse ist, für die prinzipielle Einordnung von Tötungsritualen mit Stieren jedoch ohne Belang. Eigentlich gibt es nur zwei wesentliche, gegensätzliche Komponenten: das Tier und die Gemeinschaft von Menschen, die nach dem Tod des Tieres verlangt und die Tötung ausführt.

Fortsetzung folgt.

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Quellennachweise:

[1] Rolf Neuhaus, Der Stierkampf, eine kleine Kulturgeschichte, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2007
[2] Andreas Krumbein, Stierkampf und Tierquälerei, Stierkampf - Corrida de toros, 2007
[3] Gunzelin Schmid Noer, Annelinde Eggert, Die Herausforderung der Corrida - Über den latenten Sinn eines profanen Rituals, Seite 99 bis 162 in: Kultur-Analysen - Psychoanalytische Studien zur Kultur. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1986