Mittwoch, 22. Juni 2016

Atrevido, der weisse Stier






von Philip de Málaga


Über einen historischen Tag in Madrid
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Wir schreiben den 15. Mai 1966 und befinden uns in Las Ventas, in der spanischen Metropole der tauromaquia. Die Feria San Isidro sollte an diesem tarde de toros einer der besten faenas des maestros Antonio Chenel "Antoñete" (1932 bis 2011) zu sehen bekommen. Sein toro hies Atrevido (was für verwegen, wagemutig, dreist aber auch zweideutig steht), kam von der ganadería Osborne, ist in Jerez auf der Finca Bolaños im Jahr 1963 (man achte auf das Datum, der toro bravo war gerade mal drei Jahre alt!!!) geboren, wog 486 Kilo und trug die Nummer.
Atrevido noch vor seinem grossen Auftritt im corral der Finca (Foto: El Ruedo)
Jeder war gespannt, welcher der vier toreros, der rejoneador Fermín Bohórquez, oder die matadores de toros Antonio Chenel "Antoñete", Fermín Murillo oder Victoriano "Valencia" beim sorteo zugesprochen bekam. Und als das Los auf "Antoñete" fiel, war dieser vorerst so gar nicht angetan von seinem zukünftigen Glück. Wie auch viele andere, so sah er in Atrevido eher eine vaca lechera als einen toro de lidia. Er befürchtet dass das Publikum mit dieser vaca mansa eher Mitleid haben könnte. Es sollte aber anders kommen.
A T R E V I D O
Was für ein toro. Das Publikum erwartete einen leuchtend weissen Stier, aber nicht dieses gefleckte Wesen. Nein, in den tendidos war man geradezu enttäuscht. "Gefällt mir nicht", hörte man auf den asientos. Irgendwie hatte man etwa anderes, etwas spektakuläres erhofft. Die Ankündigung eines toros blancos regte die Phantasie an, die aficionados waren regelrecht süchtig nach Neuem. Etwas überraschendes, wofür sie sich begeistern können. Und genau das konnten sie auf den ersten Blick nicht erhaschen.

Aber da war ja der maestro, von dem der bekannte Kritiker Isidrin in der Tageszeitung ABC schrieb:  "Dieser Antoñete ist so überlegen, er steht über jedem toro. Junge, Junge, auf welche Art und Weise er das torear umsetzt. Läuft Dir da nicht der Speichel aus dem Mund, bei so viel Bewunderung? Bei mir ja! Siehst Du, das hat überhaupt nichts mit dem zu tun, was wir bist jetzt diese Tage gesehen haben, diese Mittelmässigkeit an Groteskem wie Nichtssagenden."

Und als dann der toro blanco das ruedo zum Erstaunen des Publikums betreten hatte, und im ersten tercio sein ersten puyazo entgegennahm, änderte sich alles schlagartig. Denn bei den quites begann der maestro Antoñete mit seiner wahren Arbeit. Und wie er es tat. Immer besser gelang es ihm mit dem toro, mit Atrevido zu harmonisieren. Galant führte er die capa. Mit kurzen, aber feinfühlig und sanften verónicas erreichte die erste Welle der Begeisterung die tendidos. Seine Ausführung erinnerte an den matador de toros, den er nicht nur verehrte, sondern seinen Stil öfters versuchte zu kopieren, an die legendäre figura Juan Belmonte (1892 bis 1982). Geradezu eine Hommage an Belmonte. Und Atrevido beteiligte sich eifrig dabei

A T R E V I D O bei einer verónica
Vor den Augen prominenter Gäste, wie des spanischen Diktatoren Francisco Franco und des Präsidenten von Nicaragua René Schick Gutiérrez zauberten die beiden Akteure im ruedo, Antoñete und Atrevido, eine Symphonie muy torea, begleitet von stolzen sechzig muletazos.




Eine faena zum träumen. Aficionados sprechen noch heute von einer obra histórica, einem historischen Werk. Antoñete beherrschte das terreno, verstand es geradezu perfekt parar, templar y mandar. Und Atrevido war stets sehr angriffsfreudig. Der toro bravo ging den Aufforderungen des toreros nicht aus dem Weg. Und wenn der toro mal stehen blieb, begegnete Antoñete ihm mit stoischer Ruhe, behielt die Kontrolle und zauberte wunderbare naturales. In herrlicher Zeitlupe transmittierte er den temple in die plaza.


Und als dann der maestro den espada holte, war dies nicht um den estocada vorzubereiten, sondern der Beginn einer neuen faena. Von weitem begann er den toro zur embestida aufzufordern. Atrevido war bereit. Es folgte ein Spiel zwischen muleta und cuernos, ein Dialog ohne Worte, eine magische Symbiose zwischen toro und torero, die Schaffung von duende, wie das Vibrieren der Emotionen. Da waren sie nun, Atrevido und Antoñete  Ein Pas de Deux der Wirklichkeit, ein Schauspiel des Lebens, welche Las Ventas, stolze 24.000 Seelen zum Kollabieren bewegte.


Schliesslich kam er. Der momento de verdad. Beide erschöpft. toro wie torero. Nach dieser Apokalypse hätte sich jeder gewünscht, dass sich die Himmelspforten öffnen. Doch zwei pinchazos und eine media estocada verletzten den maestro nicht nur an der linken Hand, sondern bremste auch für Sekunden die Euphorie. Denn die estocada war nicht tödlich. Sichtlich enttäuscht voller Schmerzen, psychisch wie physisch, ging Antoñete zur barrera und holte den descabello. Auch hier stand Fortuna nicht Pate. Zwei descabellos und die Magie, der Zauber des weissen Stieres hat ein Ende. Ein Ende einer Reise durch das dritte tercio, vor einer beeindruckenden Kulisse eines No hay billetes, welches die afición de toros für immer im Gedächtnis behalten wird.

Wer dabei war, hörte noch lange den Nachhall der olés, spürte das Gefühl der Momente von Verliebtheit, die Emotionen purer torería. Neidisch schaut ein jeder aficionado auf jene, die dabei sein durften. Doch Dank des Besuches des Generalissimo Franco, wurde diese corrida mixta, diese historische Zauberei des toreos vom Fernsehen übertragen und kann noch heute bewundert werden. Hier ein Link zum Video: Sangre brava - Antonio Chenel Antoñete und Atrevido.