Donnerstag, 9. Januar 2014

Europa und der Stier (1.Teil)

Gedanken zum europäischen Umgang mit der mundo de los toros
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von Torodora Gorges


Wer das Thema, ob nun Stierkampf oder corrida de toros genannt, grundsätzlich ablehnt, braucht nicht weiter zu lesen. Kein Gegner soll für den Stierkampf gewonnen oder in seiner gegnerischen Position erschüttert werden. Es geht nicht darum, ihn gegen seine Kritiker zu verteidigen und zu rechtfertigen.


Nach der antiken Mythologie ist die Gestalt Europas mit dem Stier verbunden. Im kollektiven Unbewussten stellen der Stier und Europa eine Einheit dar, die sich über die darstellenden Künste vermittelt hat. Ich möchte mit dem Buch Morante de la Puebla - Torero dafür eintreten, dass der Stierkampf in den Regionen Europas erhalten wird, wo er traditionell schon immer beheimatet war, aber jetzt vom Verbot bedroht ist.

Die wachsende Einheit des modernen Europa in Form der Europäischen Union könnte – so sieht es derzeit aus - die zunehmende Trennung der mythologisch-symbolischen Verbindung zwischen
Europa und dem Stier zur Folge haben: Das moderne Europa, den Vorstellungen „politischer Korrektheit“ verpflichtet, ist dabei, sich zu entmythologisieren und sieht sich zum Verzicht auf den Stier-Kampf genötigt, gleichzeitig aber – und nicht bedacht - zum Verzicht auf den Kampf-Stier.

Henry de Montherlant
Ich vertrete die Ansicht, dass Europa durch ein Verbot des Stierkampfs an kultureller Vielfalt verliert. Wie der französische Romancier Henry de Montherlant 1926 argwöhnt: „Man hat es darauf abgesehen, durch die Vernichtung des Stierkampfs die Einheit der spanischen Seele zu vernichten“, so fürchten die Anhänger der fiesta nacional immer wieder, dass mit der Zerstörung der Tauromachie die Kultur Spaniens zerfallen könnte. Seitens der Befürworter bemüht man sich in jüngerer Zeit um die Anerkennung der Tauromachie als Bestandteil des Weltkulturerbes. Für sie ist die fiesta de toros von der Kultur des Landes nicht zu trennen. Ginge es nach den Vorstellungen der Vertreter „politischer Korrektheit“, so wäre sie innerhalb der Europäischen Union vermutlich längst verboten worden, und Europa hätte an kultureller Vielfalt und Diversität verloren.

Das umstrittene Thema lässt keine vorurteilsfreie Diskussion zu. Abgründe trennen die Gegenspieler. Die ewig gleiche Wiederholung altbekannter Argumente macht sie für die Kontrahenten nicht überzeugender! Wer in der Tauromachie nur sadistische Tierquälerei und Brutalität zu sehen bereit ist, bleibt verschlossen für andere Meinungen. Mit griffigen Slogans proklamieren die Gegner die für sie unversöhnlichen Widersprüche der Tauromachie: „La tortura no es arte ni cultura!“ (Die Tortur ist weder Kunst noch Kultur) oder „Si la tauromaquia es arte, el canibalismo es gastronomía!“ (Wenn die Tauromachie Kunst ist, dann ist Kannibalismus Gastronomie!).

Tierschützer machen sich zunehmend in den traditionellen europäischen „Stierkampfländern“ Spanien, Frankreich, Portugal, ebenso wie in den Ländern Mittel- und Südamerikas gegen den Stierkampf stark. Bislang ohne Erfolg. Durch eine in Brüssel Anfang Juni 2008 getroffene Entscheidung ist der Erhalt der fiesta de toros in den Ländern Europas mit Stierkampftradition vorläufig gesichert.

Einige katalanische Orte hatten sich bereits in den vergangenen Jahren zu „stierkampffreien Zonen“ deklariert, ohne nennenswerte Kontroversen damit auszulösen. Gegen das Ende der fiesta de toros in Barcelona, der Stadt mit der zweitgrößten plaza de toros, erheben sich gegenwärtig jedoch heftige Proteste. Das antitaurinische Klima Kataloniens entspreche nicht einer größeren Tierliebe, meinen die spanischen Befürworter der corrida de toros. Zu verstehen sei deren Ablehnung nur im Zusammenhang mit der separatistischen Politik der Katalanen und ihrem Argwohn gegenüber dem traditionalistischen „zentralistischen Spanien“.

Verteidigt wird die fiesta nacional zunehmend seitens einer „Internationale“ von europäischen und außereuropäischen Anhängern der Tauromachie. In den vergangenen Monaten (Stand März 2010) erfuhr die spanische „Welt der Stiere“ mediale Unterstützung zum Beispiel seitens der „New York Times“ und „La Repubblica“, die sich detailliert mit der innerspanischen Kontroverse beschäftigten und für den Erhalt der fiesta de toros eintraten. Auch die Artikel der deutschen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ tragen in der Regel durch ihre objektive und unpolemische Berichterstattung zur Aufklärung ihrer Leser bei.

Die deutsche Autorin dieser Zeilen zählt sich zu dieser „Internationale“ der afición a lostoros und betont mit Nachdruck, dass es keineswegs ihr Anliegen ist, Stierkampfgegnern – antitaurinos – die eigene befürwortende Position verständlich zu machen oder nahe zu bringen. Genauso wenig will sie neugierige Leser, die sich an diese Lektüre heranwagen, zu Anhängern der fiesta de toros bekehren.

Ernest Hemingway und der Stierkampf
Jahr für Jahr werden wissenschaftliche oder literarische Werke auf dem Gebiet der „Welt der Stiere“ neu verlegt. Schon Ernest Hemingway sprach von mehr als zweitausend spanischen Büchern und Broschüren, auf die er sich bei der Veröffentlichung seines inzwischen klassischen Werkes „Tod am Nachmittag“, 1932,beziehen konnte. Unter diesem Titel eroberte Hemingways Buch den englischsprachigen Raum. Seine Übersetzung in viele Sprachen verschaffte der Kunst der Tauromachie globale Verbreitung und Bedeutung. Auch im Deutschen wurde HemingwaysTod am Nachmittag“ zum Synonym für das Ritual des Stierkampfs. Die Übersetzung erschien 1957, also in einer Zeit, als der deutsche Spanien-Tourismus seinen Aufschwung nahm.

Aber schon davor, im ausgehenden 19. und frühen 20.Jahrhundert hatten sich Reisende in Spanien für die fiesta de toros interessiert, sich entweder von den „blutigen Volksfesten“ abgestoßen oder vom exotischen Reiz angezogen gefühlt. Als „Stiergefechte“ bezeichnete man um diese Zeit noch die Konfrontation von Mensch und Tier. Kulturkritiker setzten sich mit dem „anstößigen“ Thema
auseinander. Literaten, Musiker und Maler ließen sich in ihren Kunstwerken sowohl vom folkloristischen Element wie vom tödlichen Mythos inspirieren. „Carmen“, nach Prosper Mérimées Novelle von Georges Bizet vertont, ist eines der bekanntesten Beispiele.

Der Stier als Symbol fand Eingang in die Sprache des Alltags und wurde zum Sinnbild dunkler Kräfte in kulturellen und politischen Auseinandersetzungen. Für die einen repräsentierte er ungebundene Lebenskraft und Leidenschaft, für die anderen dagegen eine den Zivilisationsprozess bedrohende Macht. Ich gehe davon aus, dass ihre potentiellen Leser sich mit einem gewissen Bestand an Vorbehalten dem „prekären“ Thema nähern. Unvoreingenommenheit oder gar Neutralität sind nicht vorauszusetzen, wissbegierige Neugier einem befremdenden kulturellen Phänomen gegenüber schon eher. Bei den meisten Menschen, die sich nicht von vornherein einem möglichen inneren Konflikt durch totale Abwehr verschließen, bleibt der Zugang zur Welt der Tauromachie solange ein theoretischer, ein intellektueller, bis sie zum ersten Mal mit dieser Welt, dem mundo de los toros, in unmittelbaren Kontakt kommen. Sei es, dass sie als Zuschauer direkt an einer corrida de toros teilnehmen – oder indirekt an deren medialen Übertragung.

Die Erschütterung über das, was gesehen und erlebt wird, greift tief ins Unbewusste, man kann sich ihrer nicht erwehren. Viele Menschen treffen daraufhin die Entscheidung, sich von dieser als grausam empfundenen Welt in Zukunft fern zu halten; sie wählen die Eindeutigkeit. Andere, trotz ihrer ebenso tiefen Erschütterung, vermeiden eine prinzipielle Tabuisierung dieser Welt. Das Befremdende, das Unverstandene in Form des Archaischen hat sie erfasst und beschäftigt sie innerlich weiter. Diejenigen, die sich von dem Geschehen einfangen und berühren lassen, fühlen sich in einen Zustand innerer Zerrissenheit versetzt.

Eine Barbarei!“, so schreibt Kurt Tucholsky nach dem Besuch einer corrida in Südfrankreich. „Aber wenn sie morgen wieder ist: ich gehe wieder hin“. Die Ambivalenz, die Tucholsky 1927 in seinem Pyrenäenbuch kurz und handfest auf den Begriff bringt, wird von allen geteilt, die sich dem kultischen Charakter der Interaktion zwischen Mensch und Stier nicht verschließen, die sich affizieren lassen. Obwohl die ambivalenten Gefühle den meisten Stierkampfanhängern weitgehend unbewusst bleiben, spielt der abgewehrte Zwiespalt zwischen ethischen Überzeugungen und dem mystischen und irrationalen Reiz des archaischen Todesrituals immer wieder eine Rolle im Erleben der aficionadosa los toros.

Das spanische Wort afición beinhaltet mehr als Affinität, es ist mit Zuneigung und Liebe zu übersetzen. Die afición a los toros ist dieLiebe zu den Stieren. Die aficionados wenden sich dem Objekt ihrer Liebe immer wieder neu zu, können nicht davon lassen, folgen einer Art von Wiederholungszwang. Manche Beobachter gehen noch weiter in ihrer Beurteilung: „Die Liebenden wie die aficionados sind keine Gelegenheitskonsumenten, sondern Süchtige“, heißt es in einer 1986 erschienenen kulturanalytischen Interpretation der corrida de toros, auf die in meinem Buch über die Biografie von Morante de la Puebla noch näher eingegangen wird.

Phänomene der Sucht lassen sich bei allen Menschen beobachten, die sich mit Leidenschaft einer Sache, einer „Liebhaberei“ hingeben. Die sich zu ihrer afición bekennende Verfasserin nahm die beschriebenen Gefühle der Ambivalenz ebenso wie die zuletzt erwähnten „süchtigen Anteile“ staunend an der eigenen Person wahr. Sie beschreibt ihre ganz persönliche Annäherung an die spanische fiesta de toros, ihre neugierigen Versuche, eine komplexe fremde Welt zu durchdringen und sich allmählich anzueignen. Sie setzt an konkreten Erfahrungen an und vermeidet eine abstrakte Diskussion.

„Material“ ihrer Überlegungen liefern zum einen ihre eigenen, subjektiven Erfahrungen, und zum anderen ihre Konzentration vor allem auf den exemplarischen Lebenslauf eines toreros, der mit seiner Karriere seit über einer Dekade den „mundo taurino“ in Atem hält: José Antonio Morante Camacho „Morante de la Puebla“

Dass die Autorin gerade diesen torero in den Fokus ihrer Abhandlung stellt, ist weniger in der „Berühmtheit“, der Prominenz, dieser faszinierenden Figur begründet. Seiner Kunst, seinem irrationalen Zauber – dem embrujo- liegen die „morantistas“ zu Füßen, zu denen sich auch die Autorin zählt. Die besondere Aufmerksamkeit, die sie dem sensiblen Künstler-Torero widmet, ist seiner biographischen Entwicklung geschuldet, die stärker als vergleichbare professionelle Werdegänge Einblick in die Psychodynamik einer Torero-Persönlichkeit bietet. Sein einzigartiger Werdegang steht im Fokus der Reflexionen der Autorin, die mit hinreichender Distanz auf
psychoanalytischem Hintergrund Bewunderung und Respekt für die „fiesta más culta“am Beispiel Morante de la Pueblas zum Ausdruck bringt.

Die Autorin ist überzeugt: Im Stierkampf wird ein Drama inszeniert, das sich in seiner Irrrationalität jeder rationalen Erklärung entzieht. Einer durchrationalisierten Gesellschaft muss dieses kulturelle Phänomen daher zunehmend zum Ärgernis werden. Man könnte sagen: Unsere Gesellschaft ist dabei, sich zu Tode aufzuklären.
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Quellennachweise:
Morante de la Puebla - Torero, Torodora Gorges, Vorwort, Frankfurt 2010
Gunzelin Schmid Noerr/Annelinde Eggert, Aufsatz aus: Kultur-Analysen, Frankfurt, 1986