Sonntag, 9. August 2015

Auszug aus "Mannesalter" (1. Teil)

Anmerkungen zum Text "Mannesalter"
__________________________________________________






von Dr. Andreas Krumbein




Michel Leiris (Julien Michel Leiris), geboren am 20. April 1901 in Paris, gestorben am 20. September 1990 in Saint-Hilare (Essonne), war Schriftsteller, Dichter, Ethnologe und Kunstkritiker für die französische Kunst.

Von 1924 bis 1929 gehörte er der Gruppe der Surrealisten an. Er arbeitete als Ethnologe und zählt zu den wichtigsten französischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Der "Spiegel der Tauromachie" ist vielleicht sein schönstes Buch. Er starb 1990. nach Vollendung seines vierbändigen literarischen Hauptwerks, seiner Autobiographie "Die Spielregel". Seine zentrale Maxime lautete:

_______________________________________________

"Keine schöne Lüge produzieren,
sondern eine Wahrheit, 
die ebenso schön wäre wie die schönste Lüge."
_______________________________________________

In Deutschland ist Leiris vor allem durch seinen autobiografischen Roman "Mannesalter" (1939) bekannt geworden. Techniken seiner surrealistischen Lehrjahre, psychoanalytische Selbstbefragung und ein auf die Deutung des eigenen Lebens gerichtetes ethnologisches Instrumentarium definierten das Genre der Autobiografie neu. Das Buch ist dabei retrospektiv ausgelegt: Der 34-jährige, geistig wie zerschlagene Ich-Erzähler bemüht sich um die rückhaltlose Rekonstruktion frühkindlichen Quellen seiner psychologischen und sexuellen Obsessionen. Der dem Werk seit 1946 üblicherweise vorgelagerte Essay La littérature considerée comme une tauromachie (Literatur als Stierkampf) begründet dies: Die völlige, exihibitionistische Selbstpreisgabe verwandelt den Schriftsteller in einen torero, der den monströsen toro (das eigene desaströse Ich) aufstachelt um es zu besiegen.

In der corrida de toro, dem spanischen Stierkampf, findet man eine Vielzahl von Details, Anteilen und Anspielungen auf Riten, Symboliken und Gebräuche aus vielen Regionen Spaniens.

Die Dinge, die bei einer corrida ablaufen, und die Art und Weise, wie diese Dinge aus- und aufgeführt werden, waren und sind Themen anthropologischer, soziologischer und psychologischer Untersuchungen und Deutungen. Diese Deutungen versuchen Antworten zu geben auf Fragen wie zum Beispiel:
  • Warum tun die Menschen das?
  • Warum tun sie es auf diese Weise?
  • Was bedeutet das, was dort für sie getan wird?
  • Wie sind die Dinge eingebettet in die geschichtliche Entwicklung eines Landes und seiner Bevölkerung?
Äusserungen wie "Die Geschichte der Stierkämpfe enthüllt einige der hintergründigsten Geheimnisse des spanischen Volkslebens seit fast drei Jahrhunderten. Und es geht dabei nicht um schwammige Bewertungen, sondern darum, dass man sonst die eigentümliche gesellschaftliche Struktur unseres Volkes während dieser Jahrhunderte nicht mit Schärfe zu bestimmen vermag, eine gesellschaftliche Struktur, die hinsichtlich sehr wichtiger Regeln dem Normalen in den anderen Nationen Europa genau entgegengesetzt ist," von José Ortega y Gasset mögen als Begründung dafür dienen, sich mit solcherart von theoretischen Aspekten der corrida de toros zu befassen.

Für mich selbst, als Nicht-Spanier, der seit mehr als 25 zu den Stieren geht, ist jeder gedankliche Ansatz willkommen, der beiträgt zu einer möglichst "konsistenten" Erklärung dafür, warum ich als früherer antitaurino - so wie man eben üblicherweise Stierkampfgegner ist, wenn man einer typischen bildungs-bürgerlichen Familie der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland entstammt - sich so völlig ändern und am rituellen Töten von Stieren nicht nur Gefallen, sondern einen tiefen Sinn und eine Bereicherung für sein Leben finden kann. Diese Erklärung benötige ich in erster Linie für mich selbst. Ich will - nein ich muss! - in der Lage sein, einem anderen, der, wie es schon so häufig vorgekommen ist, fragt: "Mensch Krumbein, wie kannst Du nur so etwas gut finden?", zu er erklären, warum das bei mir so ist und ich, in dieser Hinsicht, so bin, wie ich bin. Es wird mir irgendwann gelingen, und dann werde ich dazu in der Lage sein, mich gut zu erklären. Das ist graue Theorie, ich weiss. Das, was ich irgendwann gut erklären kann, werden viele nicht verstehen. Vieles von dem dem, was sie verstehen, werden sie nicht akzeptieren. Sei`s drum.

Ein schwieriges Thema: Kinder und Stierkampf
Eine besondere Schwierigkeit und Herausforderung in dieser Hinsicht stellen Kinder dar, eine Schwierigkeit und Herausforderung, die mich zu besonderer Sorgfalt und Mühe in der Wahl meiner Worte und der Konsistenz meiner Argumentation und der tiefsten Aufrichtigkeit meiner Ausführungen motiviert. Hoffe ich doch einerseits einem noch in Teilen un voreingenommenen Geist zu begegnen, anderseits will ich das Risiko minimieren, durch ungeschickte Worte, missverständliche oder interpretierbare Formulierungen oder durch eine falsche Metapher, also durch Mangel an Einfühlung und fehlende Antizipation seines Verständnisses, diesen kindlichen Geist auf einen Weg zu führen, den ich für falsch halte. Und Kinder können gnadenlos sein in der Aufdeckung und offenen Zurschaustellung logischer Ungereimtheiten von Erwachsenen. Das sollen sie auch, ja das müssen sie sogar.

Meine momentan 13-jährige Patentochter ist für mich eine solche Herausforderung, und bei jedem ihrer Besuche geht sie einerseits kopfschüttelnd durch unsere von Stieren hier, Stieren dort überbordende Wohnung und stellt bohrende Fragen, so dass ich überzeugt bin, dass ihr eine Erklärung, die sie "verstehen" oder besser: annehmen kann, wichtig ist, um das "kranke" Hobby ihres Paten in Einklang mit ihren Vorstellungen und Werten zu bringen. Anderseits scheint sie eine gewisse grundlegende Offenheit zu besitzen, die es ihr erlaubt, eine solche Andersartigkeit bei anderen zuzulassen. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder, sehr tierlieb, zeitweise Vegetarier und voller Mitleid für jedes Tier, äussert hingegen das Verlangen, dass der Stier gewinnen möge, dadurch dass er den torero tötet. Das würde ihn freuen. In solchen Momenten bin ich der Verzweiflung nahe, um mich schnell genug daran zu erinnern, dass ich selbst schon älter als zwanzig Jahre war, als ich noch genauso dachte und sprach.

In dem hier wiedergegebenen Auszug aus "Mannesalter" von Michel Leiris befinden sich etliche der oben angesprochenen gedanklichen Ansätze, die meinen eigenen entsprechen und die Teile einer solchen Erklärung oder die Grundlage dafür liefern oder liefern können. Es werden Deutungen, teilweise sehr persönlicher Natur, vorgenommen, teilweise klingen sie lediglich an (diesbezügliche Stichworte: Sexualität, Liebesakt, Erregung, Vereinigung, Todesgefahr, Opfer, Kult, Rolle zwischen Mann und Frau, Rollenwechsel, Machtverlust des Mannes, Angst, Mut, Niederlage, ...)

Manche Details im Text entsprechen nicht meinem persönlichen Empfinden oder meiner Überzeugung. Sie innerhalb der Gesamtheit des Textes zu lesen und sie als Anregungen zur Diskussion verfügbar zu haben, ist allemal interessant und wertvoll.

SfA: Fortsetzung mit dem entsprechenden Auszug aus "Mannesalter" folgt.


_____________________________________________________________________

Quellennachweise:

Michel Leiris bei Matthes & Seitz Berlin
Michel Leiris in Wikipedia
Michel Leiris in art DIRECTORY literatur

Siehe auch:
Stierkampf und die Kinder, SfA-Reportage von Philip de Málaga vom 3. 7.2015
Mit Kinderschutz gegen den Stierkampf SfA-Reportage von Philip de Málaga vom 11.5..2015
Und wenn die Zuschauer Kinder sind (1. Teil) SfA-Reportage von Philip de Málaga vom 7.8.2007
Und wenn die Zuschauer Kinder sind (2. Teil) SfA-Reportage von Philip de Málaga vom 9.8.2007
Und wenn die Zuschauer Kinder sind (3. Teil) SfA-Reportage von Philip de Málaga vom 19.8.2007