Mittwoch, 30. Dezember 2015

Unser Stier (2. Teil)

Ein überfüllter Wettbewerb und der Einkauf
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von Dr. Andreas Krumbein



Fehleinschätzung Nr. 2:  „Ich glaube nicht, dass da viele hingehen!“

Schaut einmal: wir haben drei Freikarten für das … Gran Final Certamen Huelva Busca Un Torero.” 
Was ist denn das?
Und was heisst certamen?
Das muss ich erst nachschlagen.
Gehen wir da hin?
Na sicher, gehen wir da hin! Is‘ doch wohl klar! Übermorgen. Da brauchen wir aber wohl nicht besonders früh da zu sein. Da finden wir sicher gut Platz. Ich glaube nicht, dass da viele hingehen! Wenn für so etwas schon Freikarten ausgegeben werden.

Wir nähern uns der plaza und schon von weitem hört man aufgeregtes Stimmengewirr, durch alle Eingänge laufen – nicht gehen – Leute, sowohl hinein als auch hinaus. Ich werde unruhig. 

Ach Du Scheisse, das ist ja total voll!“ 
Ich seh’s!
Wir dürfen uns nicht verlieren!
Ja, ja!“ 

Wir schaffen es bis in die andanadas, zu den billigsten Plätzen ganz oben in sol, zu allen anderen Ebenen haben uns Ordner den Zugang verwehrt: alles voll! Die Sitzplätze sind alle belegt, die Menschen stehen in den Gängen, auf den Treppen, sitzen auf den Überdachungen der Treppenaufgänge, stehen auf jedem Stück Fläche. Im sombra sieht man Leute, die ganz oben auf dem Dach direkt neben den Fahnenmasten stehen und dort bis zum Schluss bleiben werden. ¿Hasta la bandera? Ach deswegen!


Besucher in sol beim Gran Final Certamen Huelva Busca Un Torero:
Der Anblick täuscht, so wenige Leute wie auf dem Foto waren es nicht.
Wir setzen uns zu den anderen auf das Dach des Treppenaufganges, der zu den andanadas führt. Dort sitzen schon zehn bis zwölf andere. Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Etwa dreissig Prozent der Besucher sind Jugendliche und Kinder. Etliche Leute stehen in den Gängen, die aussen um die Sitzplätze der plaza herumführen und zu den einzelnen tendidos führen. Sie sind nur da und schauen gar nicht zu.

Es war anstrengend. Unsere Tochter konnte sehr gut sehen. Meine Frau und ich nicht so gut: zwischenzeitlich mussten wir aufstehen und hatten das Dach vor den Augen. Unsere Tochter hatte jemanden kennengelernt. Alles in allem war es super! Schon wieder was gelernt: Trotz Freikarten unbedingt überpünktlich sein! (Ausserdem: kein Suppenfleisch kaufen und frühzeitig Betten buchen!)


Der schmucke Sieger des Gran Final Certamen Huelva Busca Un Torero 2011

Fehleinschätzung Nr. 3: Zur Feria tragen Mädchen Flamenco-Kleider.

Im Jahre 2010 trug in Málaga zur Feria manch junges Mädchen sein traje de flamenco, sowohl auf dem recinto ferial als auch zur corrida de toros. Und unsere Tochter tat es ihnen gleich. Sie war eine unter vielen. Im Jahre 2011 in Huelva war sie die einzige, sowohl auf dem recinto ferial als auch bei den Stieren. 

„Ich bin ja die einzige, die ein Flamenco-Kleid trägt!
Ja, ist mir auch schon aufgefallen!“. Sprach’s und kümmerte sich nicht weiter darum. 

Die schweren Peinlichkeitsattacken der Pubertät waren noch entfernt. Auf dem recinto ferial kümmerten sich auch die anderen nicht darum. Bei den Stieren schon, vorwiegend ältere Damen. 

¡Qué bonita!“ (Wie hübsch)
¡Qué guapa es!“ (Wie schön sie aussieht)
¡Guapita!“ (Schönheit)

Dann kamen die gutgemeinten Einladungen: pasteles (Kuchen) hier, ein Scheibchen jamón (Schinken) dort, ein bocadillo de chorizo (Brötchen mit Paprikawurst) ein Händchen voll pipas, doch mit eiserner Konsequenz wird jedes Angebot verschmäht, und allmählich gefriert das freundliche Lächeln der älteren Damen. Zum verschämten Lächeln der Eltern gesellt sich das Gefühl der Peinlichkeit über das ungezogene Kind, das sich nicht zu benehmen weiss. Welch Makel! Ein Waterloo! 

Sie isst ja wie in Vögelchen!
Kein Wunder, so zaundürr wie sie ist!
Du musst mehr essen!“ Stimmt! Tut sie aber nicht.


Der Sieger dankt einer jungen Besucherin für ihr Kommen; 
die Besucherin hat statt des Flamenco-Kleides ihr zweitschönstes Stück gewählt.

Das Mädchen

Auf dem Dach des Treppenaufganges ist noch ein anderes Mädchen. Es hat blonde Haare. Der matador stellt sich zu estocada auf und profiliert. Da ergreift eine Frau den blonden Kopf und drückt ihn fest an ihren Bauch, so dass das Kind nicht mehr sehen kann. Das Mädchen versucht den Kopf zu drehen, doch Mutter hat sie fest im Griff. „Guck‘ da nicht hin!“, sagt sie gut vernehmlich auf Deutsch. Die Menge jubelt, der Stier geht in die Knie, die puntilla fährt ins Genick. Mutter gibt den Kopf frei. Alles verpasst!


Beim nächsten Stier während der banderillas spricht Vater. „Das tut dem Stier überhaupt nicht weh! Das muntert ihn auf.“, sagt er zur Tochter, auch auf Deutsch. Meine Frau und ich schauen uns an und verdrehen die Augen: muss das denn sein, den Kindern solch einen Stuss zu erzählen?

Der Gewinner 2011, der novillero David de Miranda
Die beiden deutschen Mädchen haben sich gefunden. Während des folgenden Stieres hocken sie die ganze Zeit zusammen und unterhalten sich. Aufgepasst haben sie wohl kaum. Die Eltern betrachten die beiden und lassen sie. Der matador stellt sich zu estocada auf und profiliert. Die Eltern betrachten die beiden und lassen sie. 

"Findest Du es schlimm, wenn der Stier getötet wird?", fragt das Mädchen. 
"!", sagt unsere Tochter. 
"Ich auch nicht.", sagt das Mädchen, "aber meine Mutter will nicht, dass ich das sehe."
Warum nur?


Fleisch

Steht man vor der puerta grande der Plaza de Toros de la Merced in Huelva und geht man am Tag nach den Stieren links um die plaza herum und findet nach einer Viertelrunde den nur dann geöffneten Laden, aus dem heraus ein Fleischer das Fleisch der Stiere vom Vortag verkauft. Auch hier gilt die dritte neue Regel: unbedingt überpünktlich sein! Sonst gibt’s nichts mehr.


Ich komme dreissig Minuten vor Ladenöffnung. Vor mir stehen etwa zwanzig Personen. Ich stelle mich dazu. Die Leute wirken erschöpft und verschlafen, einige haben sich hingesetzt. Die Reihenfolge ist allen klar.

Ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben hält. Aus dem Fond steigt Doña Jimena. Sie hat pechschwarz gefärbte Haare und trägt schwarze Pumps. In den Händen trägt sie zwei leere Taschen aus schwarzem Kunstleder. Auf ihrem üppigen, zusammengebundenen Busen wippt ein großer, dunkelgrüner Stein. Modeschmuck. Beim Gehen biegen sich bedrohlich die Unterseiten ihrer Pumps durch. Man spürt: sie wird den Konjunktiv falsch verwenden.

Ist dies das Ende der Schlange?“ 
Die Leute schauen träge auf. 
Ja, ja, ich bin die letzte.“, sagt eine Frau mit braunem Haar. Doña Jimena wartet. 
„Ist das hier mein Platz oder Ihrer?“, wendet sich Doña Jimena an die Frau mit dem braunem Haar. 
Das ist meiner. Sie kommen nach mir.“, antwortet die Frau. Alle warten. 
Das war doch mein Platz, nicht wahr?“, fragt Doña Jimena in die Runde und zeigt auf den Platz vor der Braunhaarigen. Die Leute schauen verdutzt, einige grinsen. 
Nein, das ist mein Platz.“, sagt die Frau mit dem braunem Haar leicht genervt, „Ihr Platz ist hinter mir!

Am Laden werden geräuschvoll die Rolläden hochgezogen: es geht los! Alle drängen gleichzeitig auf die Ladentheke zu und geben lauthals ihre Wünsche den drei Verkäuferinnen zu Gehör, die wie die Verrückten Fleisch aus riesigen Wannen herausnehmen, es zerteilen, einpacken, kassieren, Wechselgeld herausgeben und sich zwischendrin den Schweiss von der Stirn und die Hände an ihren Schürzen abwischen. Währenddessen bringen Männer weitere gefüllte Wannen aus dem Inneren des Ladens nach vorne. Doña Jimena ist dran und lässt sich ihre zwei Kunstledertaschen bis zum Rand füllen. Sie bezahlt 120,00 EURO. Nach ihr kommt die Braunhaarige. Ich selbst kaufe ein Kilogramm solomillo und beachte damit die neue Regel Nr. 1.



Nur für die Härtesten: Carne de tercera (Lepe, Huelva, 2008),

bevor ich es in einer Pfanne in ein Brett verwandelt habe.
F o r t s e t z u n g   f o l g t !